Eine Sinnfrage, die spaltet

Lager Stutthof

Die einstige KZ-Sekretärin Irmgard Furchner im Konzentrationslager Stutthof ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 11.412 Fällen und in 18 weiteren Fällen wegen Beihilfe zum versuchten Mord in den Jahren 1943 bis April 1945. Sie müsste in den zwei Jahren also täglich im Schnitt fast 16 Mal Beihilfe geleistet haben. Ob ihr das bewusst war? Zum anderen war sie damals 18, höchsten 20 Jahre alt, jung, vielleicht lebenslustig und vielleicht froh einen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Ihr Geburtsjahrgang 1925 kam in den Genuss der kompletten Nazi-Idealogie, also mit 8 Jahren Jungvolk, Hiltlerjugend, BDM, Arbeitsdienst,Pflichtjahr/Landjahr, Flakhelfer, Carbolmäuschen und irgendwann totaler Kriegseinsatz und „Volkssturm“. Ich denke man muss auch fragen, hatte sie eine Wahl? Ist es da noch Recht oder Gerechtigkeit, wenn man eine 96-Jährige Frau anklagt, um Erinnerung wach zu halten. Natürlich ist es unerheblich, ob Frau oder Mann und für Mord ist auch eine Verjährung nach Lebensalter nicht zu rechtfertigen.

Dennoch tun sich da zwei widerstrebende Pole auf. Zum einen soll den Opfern eine Stimme gegeben werden. Das ist richtig und auch nötig. Ungeschehen machen kann aber niemand etwas. Aber ist es überhaupt möglich den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, in dem man das schwächste Glied in einer tödlichen Hierarchie wegen Beihilfe zum Mord in 11.412 Fällen (!) anklagt, und zwar zu einer Zeit, wo die Angeklagte ihr Leben längst gelebt hat. Es gehörte Mut dazu in dieser Zeit zu leben und nach vorne zu schauen. Noch mehr Mut gehörte aber wohl dazu das System laut in Frage zu stellen, möglicherweise unter Lebensgefahr. Wir können und wir dürfen nicht mit dem heutigen Wissen urteilen, wobei auch heute nur wenige über den Tellerand hinausschauen. Kein Entschuldigung, aber warum wurden nicht alle Richter, Staatsanwälte, Behördenmitarbeiter, Ärzte, Postboten, Reichsbahnangehörige und sehr viele andere angeklagt? Sie alle waren Rädchen im Getriebe des Massenmords. Sie alle hielten das System am Laufen, genau wie die Sekretärin des Lagerkommandanten. Ist Schuld also eine Frage von Zeit oder Zufall? Zumindest die „höheren Chargen“ in den Lagern, in den Behörden und in der Justiz wussten mehr als eine Sekretärin.